Embodiement

 

Die Verkörperung der Seele ist ein fragiler und leicht störbarer Prozess. Wenn er gelingt, kann unsere tiefe Essenz, unser eigentliches Wesen durch den Körper als „Tor zur Welt“ sich innerlich wie äußerlich gestalten, frei und vielfältig in Kontakt mit der Umwelt sein und Verbindung lebbar und erlebbar machen. Wenn jedoch Störungen diesen Prozess unterbrechen, so wird die Selbst-Werdung und Lebens-Gestaltung Verzerrungen, Fragmentierungen und Einbußen erleiden, die vielleicht eine äußere Funktionalität erlauben, jedoch in der erlebten Einheit mit sich selbst und Verbindung mit der Welt und den anderen Menschen zu Verlusten führt, die uns abhalten, das volle Potential zu erleben, das in uns steckt, und die eigentliche Qualität des „mit uns selbst und mitten im Leben sein“ geht verloren. Im Extremfall geschieht unser Leben an uns vorbei, über uns hinweg, und wir verlieren die innere Verbindung zu sowohl uns selbst in inneren Seelenkern als auch zu den Mitmenschen und den äußeren Bedingungen, mit dem Verlust von Freude, Nähe, Lebensintensität, Sinnhaftigkeit, Körperempfindung, bis hin zur Depersonalisierung, wo sogar das eigene fremd wird.

 

Meine Darstellung speist sich aus vielen Quellen: Fortbildungsgruppen, an denen ich teilgenommen habe, Bücher und Medien, die ich studiert habe, persönliche Erfahrung, Erfahrungen mit Körperwahrnehmungs-, Meditations- und Entspannungskursen, die ich geleitet habe und der direkten praktischen Auseinandersetzung mit diesen Themen in den Einzeltherapien, die ich begleiten durfte. Die Konzepte, die daraus entstanden sind und die ich hier im Überblick zugrunde lege, sind dabei jedoch teilweise meine persönlichen Arbeitskonzepte, bewährt in der Praxis aber ohne den Anspruch der Wissenschaftlichkeit oder Exaktheit.

 

Bereits die ersten Zellen, aus denen wir entstehen, besitzen eine seelische Energie oder eine Belebtheit, die in irgend einer noch unbekannten Weise Erfahrungen macht, die bereits unser späteres Sein strukturieren und bestimmen. Diese ersten Erfahrungen sowohl der Keimzellen als auch der befruchteten Eizelle sind in geeignetem Rahmen abrufbar und beinhalten mancherlei traumatische Erfahrungen, die bereits eine vollständige und positive Verkörperung in diese Zellen, in die Möglichkeit der physischen Existenz hinein behindern kann. Die Landung des seelischen im physischen und die Art der Verbindung von beidem wird nacherlebbar, und manches kann so zur Nachreifung kommen, zur Gestaltung eines besseren Musters (Embodiement-Kurse von Karlton Terry).

 

Insgesamt ist der vorgeburtliche Raum der vielleicht intensivste Erfahrungsraum den wir je haben, und auch wenn wir keine bewusste Erinnerung daran haben (obwohl sich manche Menschen durchaus recht gut an positive Mutterleib-Erfahrungen erinnern können), prägen uns diese ersten Erfahrungen besonders stark. Wir sind hier auf einem Entwicklungsniveau, das uns, ähnlich den Keimzellen, der Natur, Biologie und den waltenden Kräften überantwortet, wobei die biologischen Grundwirkprinzipien, durch Jahrmillionen gereift, durch unser ganzes Leben hindurch entscheidendes und verlässlichstes Basispotential bleiben. Es existieren allerdings in diesem frühen Stadien kaum aktive Einflussmöglichkeiten auf das Geschehen. Extremsituationen, dazu zählen Abtreibungsversuche, intensive Ablehnung des Kindes durch das Mutter, Vergiftungen durch Alkohol, Drogen und Rauchen sowie Überschwemmungen des kindlichen Organismus mit Stresshormonen der Mutter durch schwere Belastungen, können nicht verarbeitet oder bewältigt werden: weder kann das werdende Kind „verstehen“ was geschieht, noch kann es entfliehen. Die körperliche Entwicklung wie auch die Reifung des Nervensystems kann auf diese Weise erheblich leiden, eine wichtige Quelle für die sogenannten frühen Störungen bzw. strukturellen Störungen (Folgen ausführlich nachzulesen in Gerd Rudolf: Strukturbezogene Psychotherapie).

 

Infolge dessen kann die Stressverarbeitung des Neugeborenen bereits erheblich beeinträchtigt sein, ebenso die Fähigkeit, sensorische und zwischenmenschliche Erfahrungen zu organisieren, verarbeiten und beantworten. Körpergewicht, Körpersymmetrie, Belastungsverhalten, gesundheitliche Stabilität, Reifung des Nervensystems spiegeln bereits die frühen Erfahrungen. Es kommt leichter zu Überforderung und Überlastung, das heißt, die Schwelle für weitere Traumatisierung liegt niedrig, denn die traumatische Wirkung von Ereignissen oder Zuständen liegt nicht im äußeren, sondern in der inneren Fähigkeit, den Bedingungen zu begegnen, sie aushalten zu können, verarbeiten zu können und Bewältigungsmöglichkeiten zu finden. Wenn direkte innere und äußere Bewältigung nicht gelingt, kann es zu weiteren Belastungen in der Entwicklung des Nervensystems und der Persönlichkeitsorganisation kommen. Das System Mensch reagiert auf lieblose Bedingungen, fehlende Resonanz durch verstehende elterliche Kommunikation, Gewalt und Stress mit verschiedenen Reaktionen: so kann die seelische Energie dissoziativ aufgespalten werden, was der Ursprung sein kann von Borderline-Störungen, Ego-State-Disorder (Aufspaltung in verschiedene innere Seelenteile, die häufig abgetrennt sind, in Konflikt miteinander stehen), in manchen Fällen zur Dissoziativen Identitätsstörung und verschiedenen anderen dissoziativen Störungen und Folgeerscheinungen. Die eigenen seelischen wie körperlichen Reaktionen (Gefühle, Stimmungen, Regungen, Bedürfnisse) können nicht klar wahrgenommen, verstanden oder reguliert werden, es kann vielleicht kein klares „Ich“ ausgebildet werden. Die intellektuellen Fähigkeiten können dabei voll erhalten bleiben oder übersteigert sein, aber es kommt zu keiner harmonischen Ausgestaltung einer Persönlichkeit. Insbesondere im Beziehungsleben kommt es, auch im Erwachsenenalter, zu Beziehungsstörungen, Folgen insbesondere auch von Bindungsstörungen. Es kann zu Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität, schlechter Beruhigbarkeit bzw. fehlender Selbstberuhigung kommen, motorischen Störungen, Lern- und Reifungsstörungen, mit denen sich z.B. die Sensorische Integration, Body-Mind-Centering und viele andere Programme beschäftigen.

 

In der natürlichen Reifung bauen die einzelnen Reifungsschritte aufeinander auf. Jede innere Reifung führt zu verbesserten Möglichkeiten zu begegnen und zu handeln. Das innere wächst, beschützt und gehalten durch die von den Eltern geschaffenen Bedingungen, dem äußeren entgegen und verwebt sich immer ausgreifender und differenzierter mit der dinglichen Welt, dem Lebensraum und den Menschen der Umgebung (empfehlenswert hier: DVD von Gerald Hüther, Brainwash). Alle „Äste“ und „Zweige“ entsprießen einem starken, gewachsenen „Hauptstamm“, die Kraft und Integrationsfähigkeit wächst von innen nach außen, ähnlich den Jahresringen eines Baumes, jedoch ineinander verwoben und aufeinander aufbauend. Die Eltern bahnen aus dem familiären Schutz heraus gute Wege in die Welt hinein. Kommt es aber zu Brüchen, Traumatisierungen und Überforderungen, entstehen Scheinlösungen und –bewältigungen, die einen aktiven, bemühten, willensgesteuerten, nicht aus dem natürlichen Lebensschwung entstehenden Aufwand erfordern. Bekannte Beispiele sind die Überspanntheit der äußeren Pomuskulatur bei Kindern, die zu früh zur Reinheit erzogen wurden, oder die scheinbare Vernunft bei Verlust der Kindlichkeit bei Kindern, denen bereits früh zuviel familiäre Verantwortung aufgebürdet wurde, sie vielleicht sogar die Mängel und Belastungen von überforderten oder kranken Eltern tragen müssen, die Umkehrung der natürlichen Ordnung. Durch diese kompensatorischen Lösungen verlieren Menschen viel Flexibilität und inneren Fluss, weil hier ein „muß“ ins Spiel kommt, etwas das erfüllt werden muss, ohne dass die innere Reifung bereits die Bedingungen dafür zu liefern in der Lage ist. Die Seelenenergie tritt in den Hintergrund zugunsten der zu erfüllenden Funktion. Es entstehen Persönlichkeitsstrukturen, die scheinbar normal bzw. voll funktional sind, aber später im Leben durch besondere Belastungen oder Überlastung zu tiefen Einbrüchen führen können.

 

Nach den biologischen, strukturellen und traumatischen Aspekten kommt so mit der beginnenden Entstehung von Persönlichkeitsstrukturen die psychodynamische Ebene hinzu, mit der sich die „normale“ Psychotherapie bevorzugt befasst. Hier spielen Verdrängungen, Verzerrungen, Abwehrmechanismen eine Rolle, die sowohl auf die innere Wahrnehmung als auch das Selbst-Konzept als auch auf Verhalten und Beziehungen mit der Welt und anderen Menschen wesentliche Auswirkungen haben. Die Strukturen, die sich hierin ausbilden, dienen der Anpassung an die Bedingungen und Regeln der Familie und später dem erweiterten sozialen Kreis wie Nachbarschaft, Freundeskreis, Kindergarten, Schule und so weiter. Viele dieser Anpassungen schaffen ihrerseits, außerhalb der Bedingungen, die für das Kind in der Familie galten, selbst Probleme, besonders wenn sie nicht hilfreich sind, die Möglichkeiten und Bedürfnisse des Individuums sinnvoll zu verschränken mit den gegebenen äußeren Möglichkeiten. Jedoch nimmt mit zunehmender Reifung und Differenzierung der Persönlichkeit die Verletzbarkeit des Systems ab, die Belastbarkeit nimmt zu und es kommt weniger leicht zu Traumatisierungen, meist durch Extrembelastungen wie zwischenmenschlicher Gewalt, Unfälle, plötzliche Verluste von Bezugspersonen und Naturgewalten. Diese späteren Traumatisierungen können möglicherweise besser aufgefangen werden durch ein gutes soziales Umfeld und aktive innere wie äußere Bewältigungsmöglichkeiten. Traumata sind eventuell nicht mehr wie die frühen Traumatisierungen systemweit schwächend und beeinflussend, sondern spezifischer wirksam, während es daneben weitgehend unbeeinflusste Lebensbereiche geben kann.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine auch nur annährend optimale Verwirklichung des in uns liegenden Potential sicher die Ausnahme ist. Das in-die-Welt-kommen unserer Seelenenergie unterliegt fast immer Verzerrungen, Einschränkungen, Abspaltungen und anderen Prozessen. Da unser Sein und Werden ganz wesentlich von der Kultur (im weitesten Sinne, das Vorleben und die Weitergabe aller Werte, Verfahrensweisen, Lebensstrategien und Einstellungen) unserer Eltern und somit deren Eltern sowie den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt wird, werden wir noch über sehr viele Generationen hinweg weit entfernt sein von einer menschlichen Gesellschaft. Die Veränderung liegt dabei viel in der individuellen, durch Leid verursachten Suche nach einem besseren Leben, besserer Bewältigung der inneren und äußeren Probleme und wirkt nur wenig zurück auf die Gesellschaft als Ganzes. Der Einzelne, der für sich bereit ist, in die Tiefe zu tauchen und mit mehr Freiheit zurückzukommen, kann jedoch für sich persönlich erheblich profitieren, wenn er die richtigen Mittel und Wege findet.

 

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